The English version of the book, „Doc Why Not: The doctor Kiwis trust“ is now available now, too.

Die Erfahrungen eines deutschen Anästhesisten in Neuseeland. Mark Weinert lebte drei Jahre in Neuseelands Hauptstadt Wellington und berichtet humorvoll und sehr kurzweilig über seine Erfahrungen innerhalb und außerhalb seines Berufsfeldes in seinem Buch „Doc Why Not: Der Arzt, dem die Kiwis vertrauen“.

Doc Why Not“ erzählt unterhaltsam von Themen wie dem unterschiedlichen Schulsystem in den ersten Jahren (beispielsweise dem Mindset, dass niemand zu dumm zu etwas ist und dass es nur Übung braucht), der Normalität einer „Support Person“ aus dem familiären Umkreis bei Patienten, oder auch den ungeschriebenen Regeln zur Benutzung eines Grills in der Männerwelt.

Der Satz auf der Rückseite des Buches „Ohne Blatt vorm Mund schildert der Doc seinen täglichen Culture-Clash am anderen Ende der Welt.“ machte mich neugierig auf den Blickwinkel eines Experten auf die Unterschiede im deutschen und neuseeländischen Gesundheitssystem. Ich witterte interkulturellen Stoff und lauschte Mark, der bereitwillig meine Fragen beantwortete. Antworten, die es auf den Punkt bringen.

Wahlheimat Neuseeland: Hallo Mark. Danke, dass du uns mit deinem kürzlich erschienenen Buch „Doc Why Not“ die Gelegenheit gibst, einen Einblick zu ergattern in die neuseeländische Welt der Ärzte und die unterschiedliche Kultur in diesem Feld zwischen Deutschland und Neuseeland.
Was sind die Kernaussagen des Buches und um was geht es in Kürze?

Mark: Die Kernaussage des Buches ist, dass Neuseeland und Deutschland Gemeinsamkeiten haben und Unterschiede und dass man sich über diese wundern, sie genießen oder auch darüber lachen kann.

Wahlheimat Neuseeland: Kann man als deutscher Arzt leicht in Neuseeland arbeiten?

Mark: Die kurze Antwort ist ja. Die lange Antwort ist, dass es, wie immer, wenn man in einem anderen Land arbeiten möchte, schwierig sein kann. Deutschland und Neuseeland haben ein vergleichbares Ausbildungssystem, allerdings ist der Anerkennungsprozess relativ langwierig und schwierig. Man muss mit einem Jahr rechnen. Erst wenn das anerkannt ist, kann man ein Arbeitsvisum beantragen.

Wahlheimat Neuseeland: Wie gut ist die Praxisausbildung von Personal, die Einarbeitung im Job in Deutschland und Neuseeland im Vergleich?

Mark: Hier gibt es tatsächlich erhebliche Unterschiede. In Deutschland wird man relativ schnell ins kalte Wasser geschmissen und lernt aus seinen eigenen Fehlern und aus der Praxis. In Neuseeland wird man sehr lange an der Hand gehalten. Ein Beispiel dafür ist, dass die neuseeländischen Anästhesisten in den ersten zwei Jahren nie allein, sondern immer mit einem erfahrenen Facharzt im Saal sind. Jeden Tag zwei Jahre lang Doppeltbesetzung. Das ist in Deutschland unvorstellbar, sowohl von der Personalsituation her und bezüglich der Frage wie er denn je selbständig arbeiten lernen soll. Genau das ist auch das Problem, denn je nachdem, wie gut man mit seinem Facharzt zurechtkommt, darf man relativ viel selbst machen oder auch nicht, so dass zwar die theoretische Ausbildung in Neuseeland wesentlich besser ist, jedoch die Praxis, also das, was man tatsächlich tut, deutlich hinterherhinkt.

Wahlheimat Neuseeland: Mich persönlich stört ja, dass ich in Neuseeland nicht aus eigenen Stücken zu einem Spezialisten gehen kann. Und es fällt auf, dass es kaum regelmäßige (und bezahlte) Vorsorgeuntersuchungen wie in Deutschland gibt. Wie siehst du das?

Mark: Das spart unheimlich Geld, und in einem staatlichen Gesundheitssystem ist das natürlich notwendig. Mich persönlich würde auch stören, dass ich nicht zu dem Arzt gehen kann, zu dem ich will, sondern dass ich zuerst die Anlaufstelle des Hausarztes habe, der mich dann weiter überweist oder eben auch nicht. Und auch dass ich mir den Hausarzt nicht aussuchen kann. Das ist ja noch ein zweiter Punkt in Neuseeland. Ich muss mich bei einem Arzt registrieren lassen, und das ist mein Hausarzt, zu dem ich für alles, was ich habe, gehen muss. Das hat natürlich zum Nachteil, dass ich, auch wenn ich mit dem Arzt nicht zurechtkomme, an ihn gebunden bin. In Deutschland kann ich zu zehn verschiedenen Ärzten gehen, mir zehn verschiedene Meinungen einholen und natürlich zehnmal so viele Kosten verursachen. Das hat alles Vor- und Nachteile. Manchmal ist es natürlich ganz gut, dass einer nicht von einem Arzt zum nächsten rennen kann und zum nächsten und zum nächsten, … und manchmal ist es schlecht, dass man nur einen hat, an den man gebunden ist. Wobei die Hausärzte in Neuseeland eine deutlich breitere Ausbildung haben als in Deutschland, weil sie ja dort family medicine betreiben. Sie sind teilweise auch Geburtshelfer, sie nähen Wunden, sind Internisten und Kinderärzte, und das alles auf einmal. Wobei sie tatsächlich wirklich die ganze Familie betreuen.

Mark Weinert in Hobbiton
Mark Weinert in Hobbiton

Wahlheimat Neuseeland: Du bist ja Anästhesist. Wie ist deine Beobachtung angrenzender Berufe, beispielsweise bei einer Operation, gibt es da Unterschiede? Ist die Bedeutung beispielsweise von Reha, Ergotherapie etc. unterschiedlich in beiden Ländern? Gibt es so etwas wie Kuren?

Mark: Kuren sind eine rein deutsche Erfindung. Nirgendwo sonst auf der Welt gibt es ein Kursystem. Das heißt, überall sonst auf der Welt werden Menschen auch ohne Kuren bzw. Reha gesund. Ergotherapie hingegen hat eine entscheidende Bedeutung und ist oft auch ausgelagert außerhalb des Krankenhauses. In Neuseeland wird jemand deutlich schneller nach Hause entlassen als in Deutschland, wird dann aber zu Hause zum Beispiel durch eine „community nurse“ (frei übersetzt: Gemeinschaftskrankenschwester) besucht, die auch zu Hause Verbände wechselt. Das beispielsweise passiert in Deutschland noch im Krankenhaus. Es kann passieren, dass jemand nach Hause geht und noch über Wochen Medikamente, Antibiotika i.v. (intravenös) gespritzt bekommt. Das ist in Deutschland undenkbar, weil das System nicht da ist und in Deutschland zurzeit auch nicht in das Mindset passt. Noch, möchte man vielleicht sagen.

Wahlheimat Neuseeland: Stichwort Klinikregeln („policies“), wie scharf sind diese in den beiden Ländern und wie sehr hält sich das Personal daran?

Mark: Das kann man nicht auf Länderebene beschreiben. Es ist etwas, was von Krankenhaus zu Krankenhaus unterschiedlich ist, von Abteilung zu Abteilung, von Mensch zu Mensch. Daher ist die Compliance mit den Policies in Deutschland und Neuseeland persönlichkeitsabhängig ziemlich gleich.

Wahlheimat Neuseeland: Ich wurde in Neuseeland einmal dazu gezwungen, Antibiotika beim Entfernen eines Muttermals präventiv einzunehmen. Außer dieses eine Mal habe ich noch nie im Leben Antibiotika genommen, und es hat mich total genervt, dass ich im Gegensatz zu Deutschland bei so einem Minieingriff dazu genötigt wurde und kein Wahlrecht hatte. Gibt es generell Unterschiede, welche Art von Medikamenten verschrieben werden, und wie vorsichtig mit der Verschreibung umgegangen wird?

Mark: Das zielt am ehesten darauf aus, wie flexibel Menschen damit sind, von Standards abzuweichen oder nicht. Wenn es in Neuseeland Standards gibt, dann halten sich Menschen auch ziemlich strikt daran, auch wenn es eventuell keinen Sinn macht, weil in dem Fall die Regel sozusagen höher ist als eigenständig darüber nachzudenken, wie sinnvoll das jetzt ist oder nicht.

Wahlheimat Neuseeland: Zurück zur Arbeit im Krankenhaus: Gibt es Unterschiede im hierarchischen Gefüge und wirken sich diese auf die Zusammenarbeit des Personals aus? Ich denke hier auch beispielsweise an Befolgung von „Befehlen“, oder auch: Wie ist das, wenn man aus einem Kreis „Gleichgestellter“ befördert wird?

Mark: Es gibt ganz erhebliche Unterschiede dadurch, dass das neuseeländische System dem NHS (National Health Service im Vereinigten Königreich / UK) nachempfunden ist und sich das nach dem zweiten Weltkrieg anders entwickelt hat als das deutsche Medizinsystem. In Deutschland kommen wir ja aus der Militärmedizin und haben deshalb eine relativ hierarchische Struktur, die auch nach vielen Jahren schwierig abzubauen ist, auch wenn wir uns inzwischen bewusst sind, dass das notwendig ist. In England war das ganz anders. Als das NHS aufgesetzt wurde, gab es hauptsächlich privat tätige Ärzte, und man hat denen gesagt: „Wenn ihr zu uns ins NHS kommt, dann geben wir euch alle Freiheiten, die ihr haben wollt.“ So ist das Consultantsystem damals entstanden, und die Consultants dort haben keinen Fachlichen über sich, der irgendetwas medizinisch zu sagen hat. Consultant wird oft mit „Facharzt“ übersetzt, entspricht aber eher einer Oberarztposition. Dementsprechend gibt es auch keine medizinischen Anweisungen von einem Chefarzt an die Consultants, wenn man eine SOP (standard operating procedure – Standardregelung, um Routineprozesse zu beschreiben) oder eine Regelung für eine Abteilung aufstellen will, dann muss das mit allen besprochen werden und es müssen auch alle einverstanden sein. Der Head of Department, der dem Chefarzt im deutschen System entsprechen würde, wird nicht von der Klinikleitung eingesetzt, sondern er wird aus den Gleichen untereinander gewählt. Jedoch nicht auf Lebenszeit, und so viel mehr Geld bekommt er auch nicht. Es ist eher eine Art Aufwandsentschädigung. Er macht das für ein paar Jahre, je nachdem wie lange der Vertrag läuft. Seine Hauptaufgabe besteht darin, seine Abteilung nach außen gegenüber den anderen Abteilungen bzw. der Krankenhausleitung zu vertreten. Es ist nicht so, dass er eingesetzt wird, um der Abteilung im medizinischen Sinne vorzustehen.

Wahlheimat Neuseeland: Visiten in Neuseeland und Deutschland – gibt es da Unterschiede?

Mark: Ja, da gibt es auch größere Unterschiede. Die Ausbildung spielt in Neuseeland eine erhebliche Rolle, so dass bei jeder Visite der Patient erst einmal vom Jüngsten vorgestellt wird, dann wird darüber geredet. In Neuseeland finden die Visiten immer getrennt nach Consultants, also Fachärzten, statt. Das heißt, dort ist ein Patient nicht z.B. in der unfallchirurgischen Abteilung, sondern er ist unter diesem Unfallchirurg im Krankenhaus. Ein Facharzt hat ein bis drei Assistenzärzte und dann noch House Officers, die so etwas wie PJ Studenten in Deutschland wären, so dass der Patient während seines gesamten Krankenhausaufenthalts immer vom gleichen Team betreut wird. Auch wenn in einer Abteilung mehrere Fachärzte sind, ist ein Facharzt speziell für ihn zuständig, der die Visite und Operationen durchführt und ihn auch nach Hause entlässt. In Deutschland ist man in der Abteilung. Der Facharzt, der einen aufnimmt, ist nicht der, der einen operiert und meistens auch nicht der, der einen entlässt. Bei der Visite kann es sein, dass man jeden Tag jemand anderen sieht.

Über den Dächern der Hauptstadt Wellington: Aussicht vom Mt. Victoria
Über den Dächern der Hauptstadt Wellington: Aussicht vom Mt. Victoria

Wahlheimat Neuseeland: Wie ist das, wenn Personal kündigt, gibt es da Unterschiede? Und in der Fluktuationsrate?

Mark: Ich bezeichne Neuseeland gerne als ein Land der Durchreise. 80% der Menschen kommen von woanders, genauso wie du und ich. Dann gibt’s die ping-pong poms, die von England nach Neuseeland und wieder zurückwandern. In Neuseeland gibt es eine große Fluktuationsrate, die dort als normal gesehen wird. Bei uns in Deutschland ist es so, dass sich in den letzten zehn Jahren relativ viel getan hat, was die Fluktuationsrate angeht. Sie nimmt aufgrund der immer mehr steigenden Arbeitsverdichtung und immer schlechteren Arbeitsbedingungen immer mehr zu. In Deutschland wechseln Leute immer mehr den Job, weil sie unzufrieden sind. In Neuseeland ist es so, dass Menschen wandern und auf der Durchreise sind. Von denen, mit denen ich zusammengearbeitet habe, sind weniger als noch ein Drittel in der Abteilung, sowohl in der Pflege als auch die Ärzte.

Wahlheimat Neuseeland: Ich habe einmal gehört, dass Patienten in Deutschland eine eher „elitäre“ Einstellung haben nach dem Motto „Machen Sie mich gesund“. In Neuseeland ist die Haltung eher: „Was empfiehlst du mir, was ich machen kann um besser zu werden“? Inwiefern kannst du das bestätigen, oder inwiefern hast du andere Beobachtungen gemacht?

Mark: Das ist meiner Meinung nach eine sehr individuelle Einstellung, die man nicht auf Länder beziehen kann. Es ist eine persönliche Sache, und man findet beide Einstellungen im jeweiligen Land.

Wahlheimat Neuseeland: Hältst du die Psyche oder Denke oder das Mindset von Kranken in beiden Ländern unterschiedlich? Ich habe einmal gehört, dass beispielsweise Schlaganfallpatienten (besonders Härtefälle) in Deutschland eher dazu tendieren, depressiv zu werden, sich nicht mehr auf die Straße oder ins Restaurant zu trauen, wohingegen in Neuseeland das Leben weiter geht.

Mark: Auch das halte ich für eine zu große Verallgemeinerung, weil die Menschen in beiden Ländern zu unterschiedlich sind. Zu deinem Beispiel möchte ich eine Geschichte erzählen. Ich habe, als ich Medizin studiert hab, sieben Jahre Schwerstbehinderte, körperlich Behinderte gepflegt, und wir hatten einen Patienten mit einem hohen Querschnitt. Das war in Deutschland, und der Querschnitt war so hoch, dass er auch die Hände nicht mehr auf und zu machen konnte. Das passierte mit siebzehn bei einem Sprung in den See. Es gibt sogar ein Foto, das sein Vater gemacht hat, als er in den See gesprungen ist. Man könnte annehmen, dass dieser Mensch depressiv wird. Das war überhaupt nicht so. Er hatte eine gute Ausbildung, einen guten Job als Programmierer, er hatte sehr viele Freunde, er hatte ein gutes soziales Umfeld, er war Musikliebhaber, geht viel weg, hatte immer Freundinnen, ist inzwischen verheiratet, und hatte generell einen positiven Ausblick auf das Leben. Trotz dieses unheimlich schwierigen Schicksalsschlages. Und dann gab es einen Patienten, der hatte genau die gleiche Verletzung erlebt, ein Jahr später mit achtzehn beim Autounfall. Dieser war depressiv und Alkoholiker, lies sich gehen, hatte so gut wie keine Freunde. Diese beiden Menschen, die fast im gleichen Alter fast den gleichen Schicksalsschlag hatten, sind komplett verschiedene Lebenswege gegangen. Das war in Deutschland, und ähnlich habe ich es auch in Neuseeland erlebt. Es ist eine sehr individuelle, persönlichkeitsabhängige Frage, wie jemand mit seiner Krankheit und seinen Schicksalsschlägen umgeht.

Unabhängig davon kann man sagen, dass Neuseeländer eher sagen: „Toughen up!“ Übersetzt etwa: „Stell Dich nicht so an.“

Wahlheimat Neuseeland: Stichwort Älterwerden. In Deutschland besucht man den Arzt und Apotheker als Teil des sozialen Netzwerks. In Neuseeland geht man dreimal täglich einkaufen und holt sich seine Portion Smalltalk zum „Socializen“. Wahr oder falsch? Fallen dir sonst Unterschiede zum Älterwerden ein?

Mark: Ich würde sagen das stimmt. Vor allem, dass man, wenn man socializen will, zum Beispiel einkaufen geht. Ich erinnere mich noch an ein Beispiel, als wir einkaufen waren: Wenn wir einkaufen gehen in Deutschland, dann gehen wir einkaufen. Dann sind wir an der Kasse, hinter uns stehen fünf Leute und jeder wartet darauf, dass man möglichst schnell zahlt und nicht erst die Cents aus dem Geldbeutel wühlt. In Neuseeland wird ein kurzer Plausch mit der Kassiererin gehalten. Die Menschen dahinter in der Schlange empfinden das nicht als unangenehm oder unpassend. Sie verstehen, dass das der Grund ist, warum jemand einkaufen geht, dass man jetzt ein paar Worte mit der Kassiererin austauscht, und werden nicht ungeduldig.

Wahlheimat Neuseeland: In meinem interkulturellen Buch über Neuseeland, „Wahlheimat Neuseeland“ oder in der englischen Version „New Zealand – My Adopted Home“, kratze ich bei deinem Thema nur kurz an der Oberfläche. Der Hauptvergleichspunkt ist, dass in Neuseeland die staatliche Krankenversicherung steuerfinanziert ist, während in Deutschland sehr hohe Monatsbeträge geleistet werden, und dass dafür in Neuseeland die freien Leistungen im internationalen Vergleich gut sind (ohne Vorsorgeuntersuchungen, wie oben beschrieben). Wie stehst du zu dem Thema, vielleicht auch vor dem Hintergrund jüngster Entwicklungen in Deutschland?

Mark: Der Unterschied zwischen den beiden Versicherungssystemen in Deutschland und Neuseeland ist in der Tat, dass Neuseeland ein staatliches Gesundheitssystem ist, wo jeder Mensch, der im Land lebt, vom Staat krankenversichert ist, und sozusagen frei Heilfürsorge bekommt. Das heißt, sie zahlen keine Versicherungsbeiträge, nada, null, nichts, gar nicht, … und bekommen dafür das, was gemacht werden muss. Das bedeutet, ich habe Schmerzen in meiner Hüfte, ich brauche eine neue Hüftprothese, die bekomme ich dann in sechs bis zwölf Monaten. Ich komme ins Krankenhaus und habe Verdacht auf Blinddarm, dann bekomme ich erst einmal i.v. Antibiotika, weil das in einem Drittel der Fälle nicht operiert werden muss. In zwei Dritteln schon. In Deutschland: Ich habe Schmerzen in meiner Hüfte, dann möchte ich das bitte in zwei bis drei Wochen operiert bekommen. Und wenn der eine Arzt keinen Termin hat, gehe ich eben zu einem anderen. Das hat gefälligst meine Versicherung zu zahlen, für die ich ja relativ viel zahle. Ebenso in Deutschland: Wenn ich mit einem Verdacht auf Blinddarm ins Krankenhaus komme, wird der operiert, und zwar um zehn, oder um drei Uhr nachts. Ein Drittel der Fälle hätte nicht operiert werden müssen, aber der Blinddarm ist jetzt draußen. In Deutschland wird im Allgemeinen – dazu haben sich in letzter Zeit prominente Chirurgen sehr deutlich geäußert – zu viel operiert, weil der politische Druck unser System dazu zwingt, so viel wie möglich und alles so effizient wie möglich zu machen. In Neuseeland ist der Druck eher dahin gehend, keine Wartelisten zu haben. Da es wie in allen staatlichen Systemen Wartelisten gibt, wird dann hin und wieder, wenn die Wartelisten zu lang sind, Geld in die Hand genommen, um die Wartelisten abzubauen. Also in Deutschland eher zu schnell und zu viel, in Neuseeland eher zu wenig und zu langsam. Die Wahrheit liegt natürlich wie immer irgendwo in der Mitte.

Über den Dächern der Hauptstadt Wellington: Aussicht vom Mt. Victoria
Über den Dächern der Hauptstadt Wellington: Aussicht vom Mt. Victoria

Wahlheimat Neuseeland: Mythos: „Der Arzt ist an sich unfehlbar.“ Wie siehst du das in Deutschland und Neuseeland im Vergleich? Hast du dazu eine Meinung?

Mark: Nun, ich beschäftige mich seit fast zwanzig Jahren mit Patientensicherheit. Patientensicherheit ist das, was dazu beiträgt, dass der Patient keinen unnötigen Schaden während seiner Behandlung bekommt. Und seit über zwanzig Jahren gibt es diesen Mythos weder in Deutschland noch in Neuseeland. Wir sind uns sehr bewusst, dass jeder Mensch Fehler macht, und gerade Anästhesisten wissen, dass wir sehr viele Fehler machen, weil wir uns eben schon sehr, sehr lange damit wissenschaftlich auseinandersetzen und viele Systeme etabliert haben, die speziell darauf abzielen. Wir sind uns bewusst, dass die Medikamentenfehlerhäufigkeit 1:100 bis 1:124 ist. Das heißt, als Anästhesist mache ich pro Woche einen Medikamentenfehler. Wenn ich ganz besonders aufpasse, vielleicht alle zwei Wochen. Das wissen wir, und daran kann man auch nichts ändern. Weil Menschen von Natur aus die ganze Zeit Fehler machen. Wir machen viel mehr Fehler als uns bewusst ist. Es ist ganz genau untersucht. Menschen, die sagen, dass sie keine Fehler machen, das bedeutet nur, dass sie ignorant sind und keine Einsicht darin haben. Das heißt sie machen noch mehr Fehler als ihnen bewusst ist. Professor Buck von der TU München hat, das schon in den 90er Jahren ziemlich genau untersucht, dass wir bei Routineaufgaben, die wir sehr gut können und keinen Zeitdruck haben, einen Fehler pro 1.000 machen. In dem Moment, wo wir unter Zeitdruck arbeiten sind es schon 1 pro 100, und wenn es keine Routine mehr ist, und wir unter Zeitdruck stehen, dann sind es schon 1:10. Das gilt nicht nur für die Medizin, das gilt für alles. Und dementsprechend sind Ärzte, genauso wie alle anderen Menschen, Ingenieure, Flugkapitäne oder auch Journalisten sehr anfällig für alles, was Fehler angeht. Und es zielt immer darauf ab, nicht den Menschen perfekt zu machen, denn der Mensch ist nicht perfekt und kann auch nicht perfekt gemacht werden. Sondern das System so perfekt wie möglich zu machen, weil in einem System, in dem ich einen Fehler machen kann, wird dieser Fehler passieren. Aber ein System, bei dem ich den Fehler vom System her nicht machen kann, dort kann dann auch der Fehler nicht passieren. Ein Beispiel sind die Steckverschlüsse für Infusionsleitungen. Es gibt solche für intravenöse und nicht intravenöse Infusionen und solange diese beiden dieselben Anschlüsse haben, werden sie verwechselt werden. Es ist unmöglich, das zu verhindern. Es passiert einfach. Wenn Lokalanästhetika allerdings bei Anschlüssen, wie in den letzten Jahren passiert, Infusionen nicht mehr an IV-Infusionssysteme angeschlossen werden können, dann kann dieser spezielle Fehler auch nicht mehr passieren. Das ist das, worauf unser Streben im Sinne der Patientensicherheit abzielt.

Vielen Dank für dieses Interview und viele Grüße nach Neuseeland!

Vielen Dank für das Interview und die tollen Einblicke in einen Bereich, über den man sonst nicht so viel hört, insbesondere aus Sicht von Spezialisten!

4 Gedanken zu “Doc Why Not – das Interview: Mark Weinert über das Gesundheitssystem in Neuseeland und Deutschland im Vergleich”

    • Danke Emma, das freut mich! Das Buch „Wahlheimat Neuseeland“ hat auch viele Informationen, die du in keinen anderen Neuseeland-Büchern findest. Und das Interview im neuesten Blogpost mit den Wairarapa-Winzern Kai und Thomas ist locker-flockig und interessant. Viel Spaß damit!

  • Hallo Mark,

    vielen lieben Dank für deinen tollen Beitrag.

    Ich wollte Dich gerne hinsichtlich der Anerkennung des Medizinstudiums fragen, wie man sich die Zeugnisse anerkennen lassen kann und ob man das amerikanische Staatsexamen dafür auch braucht um in Neuseeland zu arbeiten

    Ich freue mich auf Deine Rückmeldung.

    Liebe Grüße
    Anna

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