Für viele Nicht-Māori in Neuseeland geht die Kenntnis der maorischen Kultur nicht viel über Tikanga Māori hinaus. Wenn überhaupt. Der eine oder andere übt sich regelmäßig darin, ein paar maorische Worte zum Besten zu geben, die in das neuseeländische Englisch eingeflossen sind. Koha, Kai, Mōrena, Aotearoa, Kia Ora, … und schon wissen wir Bescheid! Oder? 🙂
Auch wenn meine interkuturellen Bücher „Wahlheimat Neuseeland“ und „Leben und Arbeiten in Neuseeland“ sehr viel mehr unter die kulturelle Oberfläche blicken, so empfinde ich auch nach Jahren die Kultur der Māori als eher schwierig zu erschließen. Sie scheint ein wohl gehütetes Geheimnis unter den Einheimischen zu sein, an das man nur sehr schwer herankommt. Es gibt nicht viele Gelegenheiten, bei denen man einen tieferen Einblick bekommen kann.
Umso mehr freute ich mich auf die Einführung in die maorische Medizin, um etwas mehr über die heilende Wirkung einheimischer Pflanzen zu erfahren.
Aus dem Alltag zu Tapu und Kaitiaki.
Ich wurde überrascht. Es folgte kein lehrbuchmäßiger Unterricht, in dem Pflanzen und ihre Wirkung heruntergerattert wurden. In den nächsten paar Stunden sollte ich in den “sacred state” eintauchen, Tapu, den spirituellen Zustand der maorischen Kultur. Eine Kultur eines dieser wahnsinnig faszinierenden Naturvölker, die schon lange Zeit wissen, was die westliche Wissenschaft heute langsam entdeckt. Beispielsweise durch die Erkenntnisse über die heilende Kraft von Wäldern, oder dass sich Bäume untereinander unterhalten (dazu ein paar Literaturtipps weiter unten).
Wir wurden höflich aufgefordert, unser Essen ausserhalb des Sitzkreises zu legen. Denn dieser würde nun für einige Zeit unser spiritueller Kreis sein. Essen, “Kai”, gilt als Teil des “common state”, Alltagszustand, der draußen bleibt.
Wichtig ist die Eröffnung des Spirituellen durch einen maorischen Song, um alle Elemente, die sich um uns herum zu dem Zeitpunkt zeigten, mit einzubeziehen: den Wind, die Berge, das Land, den Himmel, die Sonne, die Pflanzen. Denn sie sind Teil des Ganzen, Vorfahren, Ahnen und Teil der Familie.
Jeder einzelne stellte sich mit seiner Herkunft und Kultur vor, wo er/sie herkommt, und mit den Dingen, die ihn/sie zu dem machen, was wir sind. Der Beruf gehörte – anders als bei westlichen Kulturen – nicht zur Vorstellung dazu. In meinen Büchern beschreibe ich weitere Arten der Vorstellung, deren Inhalt oft mehr über die Kultur aussagen als das eigentlich Gesagte.
Die Māori stellen sich traditionell mit den Namen ihrer Whānau, Hapū und Iwi vor, der erweiterten Familie, Stämmen und Unterstämmen und dem Land, von dem sie stammen. Mit diesem Ritual wurden wir aufgenommen in den Kreis. Wir sollten nun ein Kaitiaki werden, ein Hüter des Wissens, das uns zuteil wurde und über Generationen, Whakapapa, überliefert wurde.
Unsere Lehrer, die Pflanzen.
Unsere eigentlichen Lehrer wurden uns vorgestellt: Golden Tainui, Lemon Verbena, Kawakawa, Karamū. In der maorischen Medizin wird mit dem Herzen geheilt. Der Verstand darf wegbleiben. Setze dich in die Natur, und die Lösung und Heilung wird zu dir kommen. Suche nicht die Antwort, stelle Fragen. Die Pflanzen, die um unser Haus wachsen, sind wahrscheinlich da, weil wir sie zur Heilung brauchen. Der Kawakawabusch vor deinem Haus weiß, wann du zu Hause bist, und wann du gehst. Er ist dein Vorfahre, dein Nachbar, er lebt mit dir zusammen.
Wahre Geschichten erzählten von der Pflanze, die du immer wieder versuchst, aus dem Garten zu werfen, und die trotzdem bleibt. Es könnte auch sein, dass sie in der Nachbarschaft gebraucht wird, also behalte deine Umgebung im Auge und nicht nur dein eigenes Ich. Welche Pflanzen brauchen Unterstützung? Welche wachsen gut? Wie sind sie durch das Wetter beeinflusst? Ernte nur so viel, wie du brauchst.
Beobachte die Pflanzen, und sie werden dir sagen, was los ist und wie sie dich heilen können.
Maori würden keine Pflanzen pflücken, die nach einem heißen Sommer halb verdurstet sind. Diese Pflanzen kämpfen selbst um ihr überleben, sie haben schon genug zu tun. Ausserdem kann nur eine Heilpflanze heilen, die selbst stark genug ist. Jede Pflanze ist anders, sei weise und manage die Unterschiedlichkeiten, manage diversity.
Auch die Farbe der Pflanze kann auf deren Stärke hinweisen, oder auf die Vorkommnisse in der Nachbarschaft. Eine schwarze Pflanze deutete auf vermehrtes Auftreten von Krebs hin. Beispielsweise Karamū, Heilpflanze für Prostatakrebs, Blasenentzündungen oder Diabetes.
Wasserpflanzen werden in Wasser getaucht und danach der Patient damit berührt. Wenn Vögel die Samen essen, sind sie wahrscheinlich auch für Menschen essbar.
Kawakawa, die Pflanze des Glücks mit Herzform.
Die Raupen, die Kawakawa besonders mögen und regelmäßig für die bekannten Löcher sorgen, zeigen uns den Weg. Perfekt ist nicht, was vermeintlich perfekt ausschaut. Durch das Anknabbern der Blätter senden diese heilende Substanzen aus, die auch bei uns Menschen erst die heilende Wirkung entfalten können.
Liegt ein ganzes Kawakawablatt im Büro und färbt sich dunkel, dann darf es danach zurück zur Mutter Natur gebracht werden und das Schlechte mit sich nehmen. Bei Trauerfeiern ist Kawakawa um den Kopf und um Marae Herzheiler und nimmt die Trauer mit sich. Wichtig: Die Pflanzen gehören nicht in den Müll und auch nicht in den Kompost. Beides gehört zum “common space”. Sie werden zurück zur Mutter Erde gegeben. Die Farbe ist Teil des Heilungsprozesses.
Nicht endemische Pflanzen, Eindringlinge, werden mit Interesse beobachtet. Reihen sie sich friedvoll in die Nachbarschaft der einheimischen Pflanzen ein, dürfen sie bleiben.
Lemon Verbena ist eine unter ihnen. Ein Seitenhieb auf die Einwanderergeschichte?
Wenn Māori ins Ausland gehen, nehmen sie das Wissen um ihrer Selbst, ihrer Herkunft, ihres Landes mit. Sie versuchen nicht, es der anderen Kultur überzustülpen. Es braucht nicht Teil der anderen Kultur zu werden, kann aber, wenn es passt. Denn sie sind so gut, wie sie sind. Sie nehmen ihre Herkunft und Kultur überall hin mit und sind somit Eins mit ihrer Umwelt.
Wir begaben uns auf einen Spaziergang und beobachteten die Natur. Ngā tipu öffnet die Venen und ist gut gegen Kopfweh. Wir sehen Tarata, lemon wood. Kōhiki, der einheimische Spinat, der in den Küstenregionen vorkommt, kann nur gekocht verzehrt werden. Daher würde man auch intuitiv die Früchte nicht essen. Farn – Traumatisierte werden zur Heilung in Farne gelegt. Farne gehören zu den ersten Heilern der Erde. Sie kommen immer wieder.
Der Wind kam auf und blies uns entgegen. Das Zeichen der Natur, uns auf den Rückweg zu machen. Zum Abschluss gab es “Kai”, um uns zurück in den „common state“ zu leiten. Magische Stunden lagen hinter mir, die ich trotz “Kai”und als ehrenvoller Kaitiaki dankbar mit in den Alltag nahm.
Wer weiterlesen möchte:
Ofsoské-Wyber, Franchelle; Wyber, Anthony: „The Sacred Plant Medicine of Aotearoa“
Museum of New Zealand Te Papa: Māori medicine.
Te Ara – The Encyclopedia of New Zealand: Rongoā – medicinal use of plants.
Wohlleben, Peter: „Das geheime Leben der Bäume“ oder alternativ auch hier.
Thoma, Erwin: „Die geheime Sprache der Bäume“.
Gärtner, Heike; Krüger, Tobias: „Die natürliche Heilkraft der Bäume“.